Über das Selbstverständliche reden
In letzter Zeit begegnen mir im privaten sowie im beruflichen Umfeld immer wieder Situationen, in denen Missverständnisse auftraten, die sich durch eine genauere Kommunikation vermeiden hätten lassen. Der gemeinsame Nenner ist das „Selbstverständliche“. Was mir selbstverständlich erscheint, das erwähne ich nicht explizit. Und hier kommt die Idiolektik mit der so genannten „individuellen Bedeutung“ ins Spiel.

Der Alltag bietet viele Situationen, in denen wir der Einfachheit mal annehmen, wir wüssten genau, was unsere Gesprächspartner meinen. Unbewusst nehmen wir eine gewisse Unschärfe in Kauf – dies ist ja auch nötig, um nicht zu verzweifeln. Aber manchmal lohnt es sich doch nachzufragen.
Gewiss, dieses Nachfragen nach der individuellen Bedeutung hat die Idiolektik weder erfunden noch für sich gepachtet, es ist vielmehr ein Teil des täglichen Sprachgebrauchs. Aber eben auch ein Teil des idiolektischen Fragenkanons, und da wir in einer der letzten Übungsgruppen dieses Thema näher angeschaut haben, nehme ich die als Anlass, zwei Sequenzen dazu zu erinnern.
Ein leicht abgewandeltes Beispiel aus einer belauschten Unterhaltung:
A: „Ich werde nun 50, das möchte ich richtig groß feiern.“
Gesprächserinnerung, ich glaube ich war Mithörer in einem Zugabteil
B: „Gut, gerne. Wollen wir mal unsere ganze Familie und paar Freunde dazu einladen?“
A: „Nein, nein, ich meinte so für uns, aber mit ganz nobel essen gehen und vielleicht einem Theaterbesuch.“
„groß feiern“ ist hier ganz offensichtlich mit ganz unterschiedlichen Bedeutungsinhalten beladen. Mit einer kleinen Frage der Art „wie kann ich mit dieses ‚richtig groß feiern‘ vorstellen?“ wäre diese kleine Irritation vermeidbar gewesen.
Oder ein kleines lustiges Beispiel aus meiner eigenen Geschichte – Jahrzehnte her, aber ich kann immer noch schmunzeln:
A: „Hast Du Lust einen kleinen Spaziergang zu machen?“
B: „Gerne.“
(drei Stunden später)
B: „Das ist aber ein ziemlich großer kleiner Spaziergang!“
A war begeisterter Sportler (wir hatten uns im Judotraining kennengelernt) und leidenschaftlicher Weitwanderer (was ich nicht wusste). Für ihn, wie sich später herausstellte, war alles, was kürzer als ein halber Tagesmarsch ist, ein „Spaziergang“, und wenn es in der Ebene ist, ein „kurzer Spaziergang“. B dagegen (also in diesem Fall ich) war eher der häusliche Typ und hat sich einen Spaziergang von vielleicht 30 Minuten vorgestellt. Nix passiert, aber eine nette Erinnerung an den „semantische Hof“ (gibt an, ob ein Wort einen großen oder kleinen Bedeutungsinhalt hat. „kurz“ hat offensichtlich einen großen semantischen Hof).
Aber auch, wenn es nicht darum geht, derartige Irritationen zu vermeiden, können wir doch kleine Momente des Besser-Verstehens oder Einblicke in die Innenwelt der anderen erhaschen. Das müssen keine weltbewegenden Dinge sein, aber doch können sie dazu beitragen, das Bild, das wir von einer Person haben, zu bereichern.
A: „Wenn ich so in die Sterne schaue, da werde ich innerlich so ganz ruhig, das mag ich.“
Gesprächserinnerung aus einer Übungsrunde
B: „Was magst Du daran?“
A: „Weißt Du, die Sterne da oben sind alle in Bewegung, alle oder fast alle streben sie weg von uns. Alles ist in Bewegung… Manche dieser Punkte sind in Wahrheit Galaxienhaufen mit tausenden Sonnen vielleicht. Und ich kann hier sitzen und staunen.“
Dieses Übungsgespräch ist mir noch so lebendig erinnerlich, da in der anschließenden Reflexion sowohl die Fragestellerin als auch ein Zuhörer ihr Erstaunen ob dieser Antwort ausdrückten. Die meisten Menschen mögen den Sternenhimmel, und auch das man bei dem Anblick ruhig wird ist ein wohl bekanntes Phänomen. Und dass man es irgendwie mag auch. Hätte man nun an dieser Stelle nur genickt und gemeint, „Ja, das verstehe ich!“, dann hätte man dieses kleine Geschenk nicht erhalten. Wie gesagt – ist keine weltbewegende Erkenntnis, aber doch eine kleiner Blick in eine ansonsten verschlossen gebliebene Innenwelt.
Das schöne ist: diese kleinen Fragen kann man so gut wie in jedes Gespräch einfließen lassen. Ich nenne dies dann gerne „idiolektische Sequenzen in einem Gespräch“. Und meiner Ansicht nach bereichern sie ungemein.