Wer hört da gerade zu?

Wer hört da gerade zu?

Wer hört da zu, wenn „ich“ eine an mich gerichtete Frage höre? Nun ja, natürlich „ich“, oder? Aber dieses „ich“ ist ja kein beständiges, sich gleichbleibendes Etwas, sondern ein fein aufeinander abgestimmtes Mit- und auch Gegeneinander verschiedener Instanzen. Und die verfolgen durchaus ihre eigenen Interessen, haben aber als übergeordnetes Ziel, „mein“ Leben gut und sicher gestalten wollen.

Bild von Roy Buri auf Pixabay

Das Spannende daran ist, dass viele dieser Instanzen quasi das Licht der Öffentlichkeit scheuen und unterhalb unserer Bewusstseinsgrenze agieren. Manchmal stelle ich mir das vor wie eine Höhle, nur am Eingang ist Licht. Und in dieser Höhle sind alle diese Instanzen des „ich“ versammelt. Im Dunkel wird ständig gemauschelt, Verträge und Bündnisse geschlossen und verworfen, Kontrollen durchgeführt und so weiter. Die „Ichs“ vorne am Eingang, am Licht, bekommen davon üblicherweise nichts mit. Sie denken, sie würden selbst bestimmen, wie sie handeln, reagieren und entscheiden. Mittlerweile bin ich mir ziemlich sicher, dass sie sich irren.

Wir wissen ja aus den Neurowissenschaften, dass Erinnerungen in Netzwerken gespeichert sind und dort wieder aufgerufen und wiedergegeben werden können – z.B. das episodische Gedächtnis, unser Lebensfilm, oder das Netzwerk, in dem unser Faktenwissen gespeichert ist. Diese Netzwerke sind neokortikal, damit auch der Sprache zugänglich.

Dann gib es aber auch Erinnerungsnetzwerke, die sich dem Bewusstsein oder der Sprache entziehen. z.B. das prozedurale Gedächtnis, in dem unsere erlernten motorischen Fähigkeiten abgelegt sind: gehen, Fahrrad oder Auto fahren, eine Schleife binden. Diese Netzwerke befinden sich im Zwischenhirn und funktionieren jenseits der Sprache – deswegen fällt es so schwer, zu erklären, wie man Fahrrad fährt oder eine Schleife bindet.

Und episodische Erlebnisse, die potentiell gefährdend sind, werden zusätzlich noch im Netzwerk der Amygdala gespeichert. Wohl um den Wiedererkennungswert zu steigern (um gegebenenfalls rasch reagieren zu können), werden auch viele Details dieses Erlebnisses mit registriert: war da ein Geruch? Eine Farbe? Ein Gesichtsausdruck? Wie war mein Herzschlag? Und dieses Netzwerk begleitet uns stets. Wenn wir z.B. einen Raum voller Leute betreten – im Zwischenhirn rattern die Kontrollroutinen los, die Umgebung wird abgescannt, um etwaige Zeichen von Gefahr zu erkennen. Da reicht es vielleicht, dass jemand meinem Lehrer ähnlich schaut, der mich einmal vor versammelter Klasse zur Schnecke gemacht hat, um in mir den Impuls zu wecken „Vielleicht wäre es besser, doch wieder zu gehen.“. Die Ichs am Höhleneingang, also meine bewussten Wahrnehmungen, bekommen von dieser betriebsamen Hektik in den Tiefe der Höhle nichts mit und können sich ev. keinen Reim darauf machen. „Sind doch eh alles nette Leute hier.“, sagen sie zueinander, „Ich weiß gar nicht, was wir haben.“

Was hat dies mit Idiolektik zu tun? Für mich jedenfalls ist es hilfreich, mir vor Augen zu halten, auf welcher Ebene sich das Gespräch gerade bewegt. Sind wir auf der Ebene neokortikaler Erinnerungen? Hier fällt das Sprechen vielen Menschen leichter, da diese Netzwerke der Sprache zugänglich sind. Oder sind wir auf der Ebene des Zwischenhirns, das sich der Sprache entzieht? Denn wenn hier Erinnerungen an die Oberfläche kommen, lösen sie oft Empfindungen aus, die nicht erklärbar scheinen. Da ist es hilfreich, in die Bilderwelt zu gehen, diese aber wie Traumbilder zu behandeln: sie haben nichts mit „Logik“ zu tun. Da darf schon einmal ein Wal durch die Galaxis schwimmen, ohne dass darum großes Aufheben gemacht wird.

Und wenn gerade die Instanzen, die in und um der Amygdala werken, wachgerufen wurden, dann kann es sein, dass sie alle anderen Instanzen mundtot machen und kurzfristig die alleinige Herrschaft an sich reißen. In einer solchen Situation ist der Spielraum dieser Person stark eingeschränkt, worauf ich bei meinen Fragen Rücksicht nehmen muss.

Wie bei den Archaische Relikte erwähnt, mag es dann und wann hilfreich sein, mögliche Erklärungsmodelle zu erläutern. Aber dies ist nicht immer nötig. Oft reicht es, einfach die Bilder herzunehmen und ausmalen zu lassen. Wir müssen nicht kognitiv verstehen, was sie bedeuten. Wirken tun sie allemal. So meine Überzeugung.


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2 Gedanken zu „Wer hört da gerade zu?

  1. Die von Ihnen aufgezeigten verschiedenartigen, miteinander vernetzten, tieferliegenden Erfahrungen, Eindrücke, Gefühle , zeigen eindrucksvoll wie beeindruckend einzigartig das menschliche Wesen ist. Wunderbar wenn es gelingt diese Strukturen durch die Idiolektik ein stückweit sichtbar und begreifbar zu machen. Ich bin neugierig mehr darüber zu erfahren.

    1. Werter Herr Meister,
      danke für Ihre Rückmeldung. Es freut mich, wenn ich erfahre, dass die Beiträge gelesen werden 🙂
      Was das „mehr darüber erfahren“ angeht: Es gibt etliche offene Übungsgruppen, an denen Sie per Zoom teilnehmen können – die meisten davon sind sind einsehbar unter https://idiolektik.de/termine/.
      Vielleicht laufen wir uns ja einmal über den Weg?
      Herzliche Grüße
      Rainer Gutdeutsch

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