Was sitzt da für ein Mensch?
Während der ersten Jahre, in denen ich regelmäßig Idiolektikseminare besuchte, stellte unser Kursleiter zwischendurch immer wieder mal die Frage „Was sitzt da für ein Mensch?“. Ich kann heute nicht mehr sagen, was er damit bezweckte – leider. Vielleicht sollte ich ihn mal fragen… Aber ich merke, dass mir diese Frage gerade immer wieder in den Sinn kommt, und nehme das mal als Anlass, mir Gedanken über sie zu machen.
Sobald mir ein Mensch etwas erzählt, stelle ich Hypothesen auf darüber, was ihn bewegt, was ihm wichtig ist und mache mir ein Bild vom „wie er so ist“. Dies geschieht automatisch und unterhalb der Bewußtseinsgrenze. Unser Gehirn ist darauf spezialisiert, sich sehr rasch ein Urteil über die uns umgebenden Personen zu bilden. Können wir ihnen vertrauen? Wem gegenüber muss ich auf der Hut sein? Auch wenn diese Fragen heute vielleicht nicht die überlebenswichtige Relevanz haben wie zu Urzeiten, so hat sich unsere neurobiologische Struktur diese Fähigkeit erhalten und wendet sie laufend an – ohne uns um Erlabnis zu fragen.
Die Frage „Was sitzt da für ein Mensch?“ lässt mich innehalten und überlegen, welche Äußerungen, Anmutungen, Bewegungen meines Gegenüber zur meiner Gesamtwahrnehmung eines „wie er so ist“ führen. Das, was sonst unterhalb meiner Wahrnehmungsgrenze geschieht, kann ich nun bewusst beleuchten und hinterfragen. Darüberhinaus kann ich dann und wann erahnen, wie viel unsere Sprache über uns erzählt und preisgibt, weit über die konkrete Bedeutung der gesprochenen Worte hinaus.
Dabei meine ich weniger die Rückschlüsse, die sich rein analytisch ergeben könnten – also ob vornehmlich Verben oder Adjektive verwendet werden, ob die Sprache eher sachlich oder bilddurchwirkt ist. Sondern eher, welche inneren Bilder und Eindrücke in mir auftauchen, wenn ich jemandem zuhöre. Wie gesagt – es lässt sich nicht verhindern, dass ich mir ein Bild des anderen mache. Wenn wir es schon nicht verhindern können, können wir doch gelegendlich hinterfragen, was wir tatsächlich gehört und was wir hineininterpretiert haben – hier mal ein sehr simples Beispiel:
Feiertagsgespräche sind getragen von einer Geruhsamkeit.. Ich glaube, das ist das Geschenk, das Feiertage uns geben können… Dass im besten Falle nichts getan werden muss, sondern man die Muße hat, sich dem zu widmen, zu dem man sonst nur selten kommt. Und unter anderem sind das dann eben Gespräche, nicht? Also zurück zum Feiertag – ich freue mich einfach schon riesig, wenn… wenn ich wieder Leute zum Brunch einladen kann, und dann sitzen wir drei Stunden am gedeckten Tisch und knabbern uns so langsam durch und unterhalten uns dabei über Gott und die Welt.
Gesprächsausschnitt
„Was sitzt da für ein Mensch?“ Einer, der sich darauf freut, wieder Freunde treffen und auch bewirten zu können. Scheinbar hat er das sehr vermisst. Und die Geruhsamkeit kommt einmal explizit als Wort vor, zeigt sich aber auch in den erwähnten drei Stunden am gedeckten Tisch.
Was für Hypothesen könnte man nun aus dem Gehörten entwickeln? Ist er ein häuslicher Typ, da er gerne Leute einlädt und sie bewirtet? Lebt er alleine, da er die Freunde so vermisst hat? Hat er einen Hang zum Philosophieren, da von „über Gott und die Welt“ die Rede war? Ob er ein ruheloses Leben führt, dicht gepackt von Terminen vielleicht, weil ihm die Geruhsamkeit so wichtig ist?
Das Schöne an unseren Übungsgruppen ist, dass wir diese Frage laut stellen und uns darüber austauschen können – und dass wir die betreffende Person anschließend bitten können, etwas zu unseren Wahrnehmungen und Hypothesen zu sagen. Dabei ist es natürlich sehr wichtig, auf die eigene Sprache zu achten und stets Formulierungen zu nutzen, die anzeigen, dass ich von meinen Eindrücken rede, von meinen Bildern, die in mir aufsteigen. Tatsächlich sagt das, was ich als Beobachtung über die andere Person beschreibe, auch viel über mich aus. Denken wir an Hinz und Kunz. Zuweisungen und Etikettierungen sind tunlichst zu vermeiden, was mit ein wenig Übung auch gut gelingt.
Bei diesem Austausch über das „Was sitzt da für ein Mensch“ geht es mir vor allem darum, ein Gespür dafür zu bekommen, was ich höre und was ich daraus mache; was ich dem tatsächlich Gehörten alles aus meinen eigenen Erfahrungen, Wertvorstellungen und so weiter eingeflochten habe, um es dem Bild, das ich mir vom anderen mache, hinzuzufügen.
Das kann richtig spannend sein!